Über Lomnitz
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Lomnitz
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Abgeschnittene Hühnerbeine
•
Transparente im Garten
Lomnitz
Lomnitz, 1000 Seelen, ein Dorf irgendwo in der Weite des sächsischen Hügellandes
gelegen, 25 Kilometer von Dresden entfernt. Kein Ackerbürgerstädtchen, keine
Landidylle. Ein gesichtsloses Straßendorf, dessen Attraktion sich in einer hübschen
und öffentlich zugänglichen Garten-Modelleisenbahnanlage erschöpft. Damit wäre
Lomnitz schon hinlänglich beschrieben, gäbe es nicht noch dieses seltsame
Grundstück zwischen Kirche und Grundschule, ziemlich genau in der Mitte des Ortes:
Ein Bachlauf plätschert unbegradigt durch den verwilderten Garten, aus dem die
Holzfassade eines alten Hauses herausragt. Heimstatt der letzten Lomnitzer Hippies?
Nein, weit gefehlt. Hier wohnen die Müllers, Herr und Frau, ein unruhiges Ehepaar.
Zugezogen sind sie 1996 aus Umkirch in Baden, warum, bleibt ihr Geheimnis. Fest
steht nur: Seit jenen Tagen, als Herr und Frau Müller offiziell Lomnitzer wurden,
schwollen die Aktenordner in den Behörden bedrohlich an. Selbst zur Weihnachtszeit
wollte über Lomnitz plötzlich kein Frieden mehr kommen, wie eine Rückblende
traurig beweist.
Abgeschnittene Hühnerbeine
Die Silvesternacht 2001, nur ein Beispiel. Die Dorfjugend hatte gute Laune und zechte
- ausgerechnet vor dem Anwesen der Müllers. "Stundenlang", versichert Ria Hänel-
Müller, "wir hätten nicht das Haus verlassen können. Raketen flogen über den Zaun,
Knaller und Hühnerbeine." Hühnerbeine? "Ja, abgeschnittene Hühnerbeine, so weit
geht das!" Die Müllers ihrerseits verzichteten darauf, den Rasen ihres Grundstücks zu
schneiden. Zwecks Beweissicherung, die Hühnerbeine!
Der rückhaltlose Kampf um Schadensersatz, den das Ehepaar seit dem Jahreswechsel
führt, ist ein Wettlauf mit der Zeit. Denn der Abfall der Silvesterraketen wie auch die
Geflügelreste verrotten schnell auf dem morastigen Grund. Also legten die Müllers
eine umfangreiche Fotosammlung aller Verdächtigen an und schleppten sie
regelmäßig in einem schweren silbernen Koffer zum Amtsgericht Kamenz, um
zumindest einige der Übeltäter bestraft zu sehen. Doch der zuständige Richter stöhnte
nur auf - "Ich bin nicht der Dorfpsychologe von Lomnitz" -, dann vertagte er das
Verfahren auf Januar 2002.
Müller und Müller gegen den Rest von Lomnitz, und ein Ende ist nicht abzusehen.
"Ich wüsste nicht, welchen ihrer Nachbarn sie noch nicht verklagt haben", sagt der
Reporter der örtlichen Zeitung. "Hundegebell, Hähnekrähen oder Senseschärfen:
Alles, was auf dem Dorf halt so vorkommt, stört die Herrschaften." Ob die Pfarrerin
vor ihrer Kirche im Halteverbot parkt oder gar ein Nachbar mit blanker Brust und
kurzer Hose Bier trinkt - die Müllers schreiten ein und erstatten Anzeige wegen
öffentlichen Ärgernisses.
Transparente im Garten
So einfach möchte das Ehepaar die verkommenen Sitten in ihrer neuen Heimat nicht
hinnehmen. "Verwüstung und Verdrängung sind hier die Tagesordnung" steht auf
einem zwei Meter langen Pappschild, das sie im Wipfel eines ihrer Obstbäume
angebracht haben. "Politische Objektkunst" nennt das Werner Müller, der zeitweise
mehr als zwanzig solcher Transparente großflächig in seinem Garten verteilte. Jedes
mit einem Hinweis auf eigene Überzeugungen versehen. "Feige Doppelmoral ist die
schlechteste Wahl" zum Beispiel.
Mit seinen 67 Jahren und der silbernen Stirnlocke sieht Herr Müller aus wie ein
freundlicher römischer Senator, der jedoch schnell die Contenance verlieren kann,
etwa, wenn er auf das Kartell der "Fremdenfeindlichkeit" in Lomnitz zu sprechen
kommt. Sie selbst, die Müllers, seien Opfer von infamen Anzeigen, und dann, ganz
unvermittelt, blitzen seine Augen auf: "Wir, müssen Sie wissen, wir stehen auf dem
Boden des Grundgesetzes." Nur zu gerne erzählt Werner Müller von den höheren
demokratischen Zielen, für die er hier einen Ost-West-Konflikt ausfechte,
abendländische Zivilisation gegen postsozialistische Kartelle sozusagen. Oder er
bringt das Gespräch auf Bürgermeister Michael Eisold (CDU), der als "rote Socke" zu
seinem Lieblingsfeind avancierte. Unter anderem auch deshalb, weil der sich
weigerte, Herrn Müller mit "TOL a. D." anzureden, was "Technischer Oberlehrer
außer Dienst" bedeutet.
Der Vorwürfe gäbe es noch viel mehr, zu gerne möchte Werner Müller noch weiter
schimpfen, doch da zieht ihn seine Frau, kaum halb so alt wie er und dem Lächeln
abgeneigt, Magistra Artium in Slawistik, Germanistik und Musik, da zieht ihn seine
resolute junge Frau in den bereitstehenden Kleinwagen hinein. "Schon zu viel, schon
zu viel", befindet sie. Man traut auch den Journalisten nicht mehr im Hause Müller.
Einmal, als ein Reporter sich ohne Erlaubnis auf dem Grundstück umgesehen hatte,
bemerkten die Müllers hinterher die Spuren im Schnee. Sie entschieden,
flächendeckend Angelschnüre zu spannen, um weiteres Eindringen zu verhindern. Das
versichert wenigstens ein Nachbar der Müllers, der sich auch schon mal, wegen eines
zu weit überragenden Kirschbaumes, eine Anzeige eingefangen hat. "Wir haben gar
nichts gegen die. Aber die spinnen doch, oder?", sagt er.
Wer diese Frage wirklich beantworten will, muss den "Glockenkrieg" kennen,
jedenfalls nannte die Lokalzeitung die Geschichte so. Ein Nachbarehepaar der Müllers
verfügt über keine der üblichen Türklingeln, stattdessen baumelt über dem Vordach
eine mittelgroße Messingglocke, welche der Besucher mittels Seilzug bedient. "Eine
Alarmglocke", erregt sich Werner Müller, "eine Alarmglocke." Bis zu drei Mal werde
dieses ausschließlich dem Terror dienende Instrument an wilden Tagen angeschlagen.
Ein Affront, den sich die Müllers irgendwann nicht mehr bieten lassen wollten. "Weg
mit der Glocke!" - "Die Glocke muss bleiben" prangte am nächsten Tag an einer
Fassade jenseits der Hauptstraße. Und die Gasse zwischen Müllers Hoheitsgebiet und
dem Nachbarn mit der Glocke wurde in "Weg mit der Glocke" umgetauft. Fortan
wurde jeder Glockenklang damit beantwortet, dass die Müllers die Fenster aufrissen,
Topfdeckel aneinander schepperten und Trillerpfeifen bliesen, zehn Minuten lang.
So geht das hin und her in den sächsischen Hügeln. Nichts wird sich so schnell
beruhigen, ganz sicher nicht, denn jetzt ist wieder bald Silvester.
Von Marcus von Schmude
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Über Lomnitz
•
Lomnitz
•
Abgeschnittene Hühnerbeine
•
Transparente im Garten
Lomnitz
Lomnitz, 1000 Seelen, ein Dorf irgendwo in der Weite des
sächsischen Hügellandes gelegen, 25 Kilometer von Dresden
entfernt. Kein Ackerbürgerstädtchen, keine Landidylle. Ein
gesichtsloses Straßendorf, dessen Attraktion sich in einer hübschen
und öffentlich zugänglichen Garten-Modelleisenbahnanlage
erschöpft. Damit wäre Lomnitz schon hinlänglich beschrieben,
gäbe es nicht noch dieses seltsame Grundstück zwischen Kirche
und Grundschule, ziemlich genau in der Mitte des Ortes: Ein
Bachlauf plätschert unbegradigt durch den verwilderten Garten,
aus dem die Holzfassade eines alten Hauses herausragt. Heimstatt
der letzten Lomnitzer Hippies? Nein, weit gefehlt. Hier wohnen die
Müllers, Herr und Frau, ein unruhiges Ehepaar.
Zugezogen sind sie 1996 aus Umkirch in Baden, warum, bleibt ihr
Geheimnis. Fest steht nur: Seit jenen Tagen, als Herr und Frau
Müller offiziell Lomnitzer wurden, schwollen die Aktenordner in
den Behörden bedrohlich an. Selbst zur Weihnachtszeit wollte über
Lomnitz plötzlich kein Frieden mehr kommen, wie eine
Rückblende traurig beweist.
Abgeschnittene Hühnerbeine
Die Silvesternacht 2001, nur ein Beispiel. Die Dorfjugend hatte
gute Laune und zechte - ausgerechnet vor dem Anwesen der
Müllers. "Stundenlang", versichert Ria Hänel-Müller, "wir hätten
nicht das Haus verlassen können. Raketen flogen über den Zaun,
Knaller und Hühnerbeine." Hühnerbeine? "Ja, abgeschnittene
Hühnerbeine, so weit geht das!" Die Müllers ihrerseits verzichteten
darauf, den Rasen ihres Grundstücks zu schneiden. Zwecks
Beweissicherung, die Hühnerbeine!
Der rückhaltlose Kampf um Schadensersatz, den das Ehepaar seit
dem Jahreswechsel führt, ist ein Wettlauf mit der Zeit. Denn der
Abfall der Silvesterraketen wie auch die Geflügelreste verrotten
schnell auf dem morastigen Grund. Also legten die Müllers eine
umfangreiche Fotosammlung aller Verdächtigen an und schleppten
sie regelmäßig in einem schweren silbernen Koffer zum
Amtsgericht Kamenz, um zumindest einige der Übeltäter bestraft
zu sehen. Doch der zuständige Richter stöhnte nur auf - "Ich bin
nicht der Dorfpsychologe von Lomnitz" -, dann vertagte er das
Verfahren auf Januar 2002.
Müller und Müller gegen den Rest von Lomnitz, und ein Ende ist
nicht abzusehen. "Ich wüsste nicht, welchen ihrer Nachbarn sie
noch nicht verklagt haben", sagt der Reporter der örtlichen Zeitung.
"Hundegebell, Hähnekrähen oder Senseschärfen: Alles, was auf
dem Dorf halt so vorkommt, stört die Herrschaften." Ob die
Pfarrerin vor ihrer Kirche im Halteverbot parkt oder gar ein
Nachbar mit blanker Brust und kurzer Hose Bier trinkt - die
Müllers schreiten ein und erstatten Anzeige wegen öffentlichen
Ärgernisses.
Transparente im Garten
So einfach möchte das Ehepaar die verkommenen Sitten in ihrer
neuen Heimat nicht hinnehmen. "Verwüstung und Verdrängung
sind hier die Tagesordnung" steht auf einem zwei Meter langen
Pappschild, das sie im Wipfel eines ihrer Obstbäume angebracht
haben. "Politische Objektkunst" nennt das Werner Müller, der
zeitweise mehr als zwanzig solcher Transparente großflächig in
seinem Garten verteilte. Jedes mit einem Hinweis auf eigene
Überzeugungen versehen. "Feige Doppelmoral ist die schlechteste
Wahl" zum Beispiel.
Mit seinen 67 Jahren und der silbernen Stirnlocke sieht Herr
Müller aus wie ein freundlicher römischer Senator, der jedoch
schnell die Contenance verlieren kann, etwa, wenn er auf das
Kartell der "Fremdenfeindlichkeit" in Lomnitz zu sprechen kommt.
Sie selbst, die Müllers, seien Opfer von infamen Anzeigen, und
dann, ganz unvermittelt, blitzen seine Augen auf: "Wir, müssen Sie
wissen, wir stehen auf dem Boden des Grundgesetzes." Nur zu
gerne erzählt Werner Müller von den höheren demokratischen
Zielen, für die er hier einen Ost-West-Konflikt ausfechte,
abendländische Zivilisation gegen postsozialistische Kartelle
sozusagen. Oder er bringt das Gespräch auf Bürgermeister Michael
Eisold (CDU), der als "rote Socke" zu seinem Lieblingsfeind
avancierte. Unter anderem auch deshalb, weil der sich weigerte,
Herrn Müller mit "TOL a. D." anzureden, was "Technischer
Oberlehrer außer Dienst" bedeutet.
Der Vorwürfe gäbe es noch viel mehr, zu gerne möchte Werner
Müller noch weiter schimpfen, doch da zieht ihn seine Frau, kaum
halb so alt wie er und dem Lächeln abgeneigt, Magistra Artium in
Slawistik, Germanistik und Musik, da zieht ihn seine resolute junge
Frau in den bereitstehenden Kleinwagen hinein. "Schon zu viel,
schon zu viel", befindet sie. Man traut auch den Journalisten nicht
mehr im Hause Müller. Einmal, als ein Reporter sich ohne
Erlaubnis auf dem Grundstück umgesehen hatte, bemerkten die
Müllers hinterher die Spuren im Schnee. Sie entschieden,
flächendeckend Angelschnüre zu spannen, um weiteres Eindringen
zu verhindern. Das versichert wenigstens ein Nachbar der Müllers,
der sich auch schon mal, wegen eines zu weit überragenden
Kirschbaumes, eine Anzeige eingefangen hat. "Wir haben gar
nichts gegen die. Aber die spinnen doch, oder?", sagt er.
Wer diese Frage wirklich beantworten will, muss den
"Glockenkrieg" kennen, jedenfalls nannte die Lokalzeitung die
Geschichte so. Ein Nachbarehepaar der Müllers verfügt über keine
der üblichen Türklingeln, stattdessen baumelt über dem Vordach
eine mittelgroße Messingglocke, welche der Besucher mittels
Seilzug bedient. "Eine Alarmglocke", erregt sich Werner Müller,
"eine Alarmglocke." Bis zu drei Mal werde dieses ausschließlich
dem Terror dienende Instrument an wilden Tagen angeschlagen.
Ein Affront, den sich die Müllers irgendwann nicht mehr bieten
lassen wollten. "Weg mit der Glocke!" - "Die Glocke muss
bleiben" prangte am nächsten Tag an einer Fassade jenseits der
Hauptstraße. Und die Gasse zwischen Müllers Hoheitsgebiet und
dem Nachbarn mit der Glocke wurde in "Weg mit der Glocke"
umgetauft. Fortan wurde jeder Glockenklang damit beantwortet,
dass die Müllers die Fenster aufrissen, Topfdeckel aneinander
schepperten und Trillerpfeifen bliesen, zehn Minuten lang.
So geht das hin und her in den sächsischen Hügeln. Nichts wird
sich so schnell beruhigen, ganz sicher nicht, denn jetzt ist wieder
bald Silvester.
Von Marcus von Schmude
Über
Lomnitz
•
Lomnitz
•
Abgeschnittene Hühnerbeine
•
Transparente im Garten
Lomnitz
Lomnitz, 1000 Seelen, ein Dorf irgendwo in der Weite
des sächsischen Hügellandes gelegen, 25 Kilometer
von Dresden entfernt. Kein Ackerbürgerstädtchen,
keine Landidylle. Ein gesichtsloses Straßendorf,
dessen Attraktion sich in einer hübschen und
öffentlich zugänglichen Garten-
Modelleisenbahnanlage erschöpft. Damit wäre
Lomnitz schon hinlänglich beschrieben, gäbe es nicht
noch dieses seltsame Grundstück zwischen Kirche und
Grundschule, ziemlich genau in der Mitte des Ortes:
Ein Bachlauf plätschert unbegradigt durch den
verwilderten Garten, aus dem die Holzfassade eines
alten Hauses herausragt. Heimstatt der letzten
Lomnitzer Hippies? Nein, weit gefehlt. Hier wohnen
die Müllers, Herr und Frau, ein unruhiges Ehepaar.
Zugezogen sind sie 1996 aus Umkirch in Baden,
warum, bleibt ihr Geheimnis. Fest steht nur: Seit jenen
Tagen, als Herr und Frau Müller offiziell Lomnitzer
wurden, schwollen die Aktenordner in den Behörden
bedrohlich an. Selbst zur Weihnachtszeit wollte über
Lomnitz plötzlich kein Frieden mehr kommen, wie
eine Rückblende traurig beweist.
Abgeschnittene Hühnerbeine
Die Silvesternacht 2001, nur ein Beispiel. Die
Dorfjugend hatte gute Laune und zechte -
ausgerechnet vor dem Anwesen der Müllers.
"Stundenlang", versichert Ria Hänel-Müller, "wir
hätten nicht das Haus verlassen können. Raketen
flogen über den Zaun, Knaller und Hühnerbeine."
Hühnerbeine? "Ja, abgeschnittene Hühnerbeine, so
weit geht das!" Die Müllers ihrerseits verzichteten
darauf, den Rasen ihres Grundstücks zu schneiden.
Zwecks Beweissicherung, die Hühnerbeine!
Der rückhaltlose Kampf um Schadensersatz, den das
Ehepaar seit dem Jahreswechsel führt, ist ein Wettlauf
mit der Zeit. Denn der Abfall der Silvesterraketen wie
auch die Geflügelreste verrotten schnell auf dem
morastigen Grund. Also legten die Müllers eine
umfangreiche Fotosammlung aller Verdächtigen an
und schleppten sie regelmäßig in einem schweren
silbernen Koffer zum Amtsgericht Kamenz, um
zumindest einige der Übeltäter bestraft zu sehen. Doch
der zuständige Richter stöhnte nur auf - "Ich bin nicht
der Dorfpsychologe von Lomnitz" -, dann vertagte er
das Verfahren auf Januar 2002.
Müller und Müller gegen den Rest von Lomnitz, und
ein Ende ist nicht abzusehen. "Ich wüsste nicht,
welchen ihrer Nachbarn sie noch nicht verklagt
haben", sagt der Reporter der örtlichen Zeitung.
"Hundegebell, Hähnekrähen oder Senseschärfen:
Alles, was auf dem Dorf halt so vorkommt, stört die
Herrschaften." Ob die Pfarrerin vor ihrer Kirche im
Halteverbot parkt oder gar ein Nachbar mit blanker
Brust und kurzer Hose Bier trinkt - die Müllers
schreiten ein und erstatten Anzeige wegen öffentlichen
Ärgernisses.
Transparente im Garten
So einfach möchte das Ehepaar die verkommenen
Sitten in ihrer neuen Heimat nicht hinnehmen.
"Verwüstung und Verdrängung sind hier die
Tagesordnung" steht auf einem zwei Meter langen
Pappschild, das sie im Wipfel eines ihrer Obstbäume
angebracht haben. "Politische Objektkunst" nennt das
Werner Müller, der zeitweise mehr als zwanzig
solcher Transparente großflächig in seinem Garten
verteilte. Jedes mit einem Hinweis auf eigene
Überzeugungen versehen. "Feige Doppelmoral ist die
schlechteste Wahl" zum Beispiel.
Mit seinen 67 Jahren und der silbernen Stirnlocke
sieht Herr Müller aus wie ein freundlicher römischer
Senator, der jedoch schnell die Contenance verlieren
kann, etwa, wenn er auf das Kartell der
"Fremdenfeindlichkeit" in Lomnitz zu sprechen
kommt. Sie selbst, die Müllers, seien Opfer von
infamen Anzeigen, und dann, ganz unvermittelt,
blitzen seine Augen auf: "Wir, müssen Sie wissen, wir
stehen auf dem Boden des Grundgesetzes." Nur zu
gerne erzählt Werner Müller von den höheren
demokratischen Zielen, für die er hier einen Ost-West-
Konflikt ausfechte, abendländische Zivilisation gegen
postsozialistische Kartelle sozusagen. Oder er bringt
das Gespräch auf Bürgermeister Michael Eisold
(CDU), der als "rote Socke" zu seinem Lieblingsfeind
avancierte. Unter anderem auch deshalb, weil der sich
weigerte, Herrn Müller mit "TOL a. D." anzureden,
was "Technischer Oberlehrer außer Dienst" bedeutet.
Der Vorwürfe gäbe es noch viel mehr, zu gerne
möchte Werner Müller noch weiter schimpfen, doch
da zieht ihn seine Frau, kaum halb so alt wie er und
dem Lächeln abgeneigt, Magistra Artium in Slawistik,
Germanistik und Musik, da zieht ihn seine resolute
junge Frau in den bereitstehenden Kleinwagen hinein.
"Schon zu viel, schon zu viel", befindet sie. Man traut
auch den Journalisten nicht mehr im Hause Müller.
Einmal, als ein Reporter sich ohne Erlaubnis auf dem
Grundstück umgesehen hatte, bemerkten die Müllers
hinterher die Spuren im Schnee. Sie entschieden,
flächendeckend Angelschnüre zu spannen, um
weiteres Eindringen zu verhindern. Das versichert
wenigstens ein Nachbar der Müllers, der sich auch
schon mal, wegen eines zu weit überragenden
Kirschbaumes, eine Anzeige eingefangen hat. "Wir
haben gar nichts gegen die. Aber die spinnen doch,
oder?", sagt er.
Wer diese Frage wirklich beantworten will, muss den
"Glockenkrieg" kennen, jedenfalls nannte die
Lokalzeitung die Geschichte so. Ein Nachbarehepaar
der Müllers verfügt über keine der üblichen
Türklingeln, stattdessen baumelt über dem Vordach
eine mittelgroße Messingglocke, welche der Besucher
mittels Seilzug bedient. "Eine Alarmglocke", erregt
sich Werner Müller, "eine Alarmglocke." Bis zu drei
Mal werde dieses ausschließlich dem Terror dienende
Instrument an wilden Tagen angeschlagen. Ein
Affront, den sich die Müllers irgendwann nicht mehr
bieten lassen wollten. "Weg mit der Glocke!" - "Die
Glocke muss bleiben" prangte am nächsten Tag an
einer Fassade jenseits der Hauptstraße. Und die Gasse
zwischen Müllers Hoheitsgebiet und dem Nachbarn
mit der Glocke wurde in "Weg mit der Glocke"
umgetauft. Fortan wurde jeder Glockenklang damit
beantwortet, dass die Müllers die Fenster aufrissen,
Topfdeckel aneinander schepperten und Trillerpfeifen
bliesen, zehn Minuten lang.
So geht das hin und her in den sächsischen Hügeln.
Nichts wird sich so schnell beruhigen, ganz sicher
nicht, denn jetzt ist wieder bald Silvester.
Von Marcus von Schmude